Aus ganz Europa reisen angehende und gestandene Literaturübersetzer jedes Frühjahr in die Schweiz, um im Literaturhaus Lenzburg ein Wochenende lang im Kollegenkreis intensiv an Texten zu feilen, sich Anregungen zu holen, die eigene Arbeitsweise zu reflektieren und von renommierten Übersetzern zu lernen.
Dieses Jahr lockte mich der Spanisch-Workshop unter der Leitung von Christian Hansen aus Madrid. Die frühzeitig vorab zugesandten Texte von Alan Pauls und Roberto Bolaño waren stilistisch sehr unterschiedlich und hatten es beide in sich. In der ersten Arbeitseinheit zerlegen wir genüsslich den einleitenden Satz von Alan Pauls – eine Zeile, dreizehn Wörter, eine Stunde. Bis der deutsche Satz ähnlich selbstverständlich dasteht wie der spanische.
MERKE: Der Satz soll nicht zappeln.
Das komplex verschachtelte Satzgebilde über sage und schreibe zwanzig Zeilen, auf das ich zu Hause gestarrt habe wie das Kaninchen auf die Schlange, folgt erst vier Sätze und etliche Seminarstunden später. Beim Ringen um ein Gleichgewicht von Sinn, Klang, Satzbau und Rhythmus, das der Textpassage, der Dramaturgie und dem Autoren insgesamt gerecht wird, schälen sich weitere Leitsätze heraus.
MERKE: Wenn etwas komisch klingt, ist es meistens falsch.
Dieser Lieblingsspruch meines Englisch-Dozenten aus Germersheim begleitet mich seit dreißig Jahren und hat mir schon viele dumme Fehler erspart. Manche Wendungen oder Bilder fallen einem auf; man findet sie eigenartig, gibt sich aber damit zufrieden, dass der Autor hier offenbar besonders kreativ war („Ist ja komisch, aber wenn er es unbedingt so will, dann schreibe ich es eben so“). Daraus ergibt sich gleich noch ein zweiter Grundsatz, der nach etlichen Jahren im Beruf eher noch wichtiger ist als früher.
MERKE: Wenn du glaubst, ein Wort zu kennen, schlag‘ es trotzdem nach.
(Ganz besonders, wenn die Passage irgendwie merkwürdig klingt…)
Dann wäre mein Protagonist nämlich einfach vor dem ohrenbetäubenden Gelärme der Zikaden (Cigarras) geflohen statt vor den benebelnden Rauchschwaden der Zigarren (die ich im Kontext geradezu riechen konnte). Woraus gleich noch eine Regel ableitbar ist:
MERKE: Verlieb dich nie in deine eigenen Bilder, so stimmig sie auch erscheinen mögen.
Um sprachlich die passende Ebene zu erwischen, helfen Fragen wie: Hätte dieser Satz auch anders lauten können? Beruht eine Auffälligkeit auf Eigenheiten der Ausgangssprache, die keine andere Lösung zulässt, oder soll an einer bestimmten Stelle etwas mit sprachlichen Mitteln hervorgehoben oder verschleiert werden? Welche sprachlichen Mittel der Zielsprache erzielen eine vergleichbare Wirkung?
Bei der Entlarvung eigener Fehlinterpretationen hilft insbesondere zeitlicher Abstand (mindestens drüber schlafen, am besten einige Tage oder Wochen liegen lassen), aber auch der unverstellte Blick der Redakteurin oder Lektorin, die den Text stets noch einmal anders erfasst als die Übersetzerin.
MERKE: So wörtlich wie möglich, so frei wie nötig.
Das Ergebnis soll den Intentionen des Schriftstellers entsprechen. Eine weitere Regel gilt auch für Blogger:
MERKE: Schreibe alles hin, was der Text (respektive beim Bloggen das Thema) hergibt. Dann streiche jedes verzichtbare Wort.
Die Übersetzung wird verdichtet, bis sie für sich steht und ebenso implizit oder explizit erscheint wie der Ursprungstext. Hierzu gehört, die eigene Interpretation zu hinterfragen, statt sie dem Leser fix und fertig aufzutischen. Als Literaturübersetzerin sollte ich dem Leser die Anstrengung des Lesens und Denkens nicht per Holzhammermethode abnehmen. Solange der Autor vage bleibt, sollte auch den Lesern (oder Hörern) Raum für eigene Spekulationen bleiben.
MERKE: Der Leser hat ein Recht darauf, selbst zu denken.
Danke, Christian, für die geduldige, akribische Arbeit, die keinen Augenblick langweilig oder zäh wurde. Auch die Berichte aus den anderen Workshops (Englisch, Italienisch, Französisch) waren wieder spannend. Pedro Zimmermann hat das Wochenende wieder mit ruhiger Hand so organisiert, dass konzentrierte Arbeit und angeregter Austausch im richtigen Verhältnis möglich waren.
An meine Leserinnen und Leser: Welcher der obigen Leitsätze hilft euch bei eurer Arbeit am meisten? Oder beherzigt ihr noch ganz andere, die hier nicht genannt sind? Ich bin gespannt auf eure Gedanken und Kommentare.
Liebe Imke
Erst jetzt lese ich Deinen anregenden Rückblick.
Herzlichen Dank und schöne Grüsse aus Zürich
Pedro
Der Dank geht zurück nach Zürich, lieber Pedro. Es war ein überaus anregendes Wochenende, und ich freue mich schon heute auf nächstes Jahr. Beste Grüße aus dem Schwarzwald, Imke