Massenmord in den Schlagzeilen: Deutungshoheit beim Täter?

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#plantroses

© Imke Brodersen, 2016

„Oh bitte, lass es einen normalen Amoklauf sein!“ So dachte ich spontan bei den ersten Nachrichten aus München am vergangenen Wochenende. Was auch immer an einem Amoklauf „normal“ ist. Menschen suchen verzweifelt nach Kategorien für das eigentlich Unfassbare: Dass jemand seine persönliche Befindlichkeit über das Recht der anderen auf Leben und körperliche Unversehrtheit stellt. Mein heutiger Blogartikel konzentriert sich auf den bewussten Umgang mit Sprache.

Eine objektive Berichterstattung, die das Einordnen des Geschehens erleichtert, erzeugt zugleich einen gewissen Abstand. Sie hilft den Lesern, Hörern und Zuschauern zu begreifen, was da gerade in München, Reutlingen oder Ansbach, bei Würzburg oder in Nizza vor sich geht. Als Übersetzerin achte ich sehr genau auf die Wortwahl und auf das, was Sprache vermag. Gewalttaten werden gern nach ihren angeblichen Ursachen benannt.

Mord und Totschlag haben viele Namen

Ein kurzes Glossar rund um die Begrifflichkeiten von Mord und Totschlag und Massenmord für alle, die in dieser Hinsicht gelegentlich ihre Schwierigkeiten haben (vielleicht auch für Krimiübersetzer, aber die suchen eher andere Begrifflichkeiten):

Geläufige Bezeichnung Definition
Amoklauf (m.) Jemand tötet aus persönlichen Gründen wahllos Menschen und am Ende oft sich selbst
Beziehungstat (f.) Jemand tötet den Partner/die Partnerin oder einen Menschen, der keine Beziehung (mehr) wünscht
Bombenattentat (n.) Jemand tötet und verletzt aus weltanschaulichen Gründen wahllos andere Menschen
Brandanschlag (m.) Jemand tötet durch Brandstiftung (meist aus weltanschaulichen Gründen)
Ehrenmord (m.) Jemand tötet aus weltanschaulichen Gründen eine/n oder mehrere Angehörige(n)
Erweiterter Suizid (m.) Jemand tötet andere Menschen oder Angehörige und begeht im Anschluss daran Suizid
Familiendrama (n.) Jemand tötet eigene Familienangehörige, häufig aus Rachegedanken, oft im Rahmen eines erweiterten Suizids
Familientragödie (f.) Siehe Familiendrama. Bei der „Tragödie“ glaubt der Täter, er würde den Angehörigen „Leid ersparen“.
Selbstmordattentat (m.) Jemand tötet und verletzt aus weltanschaulichen Gründen wahllos andere Menschen und begeht dabei bewusst einen erweiterten Suizid
Serienmord (m.) Jemand tötet andere Menschen nach einem bestimmten Schema, oft über Jahre hinweg
Terroranschlag (m.) Jemand tötet und verletzt aus weltanschaulichen Gründen wahllos andere Menschen

Weltanschauliche Gründe werden in der Berichterstattung gern näher ausdifferenziert (politisch, rassistisch, religiös oder sexuell motiviert). Je weiter man differenziert, desto eher findet sich eine Kategorie, die diese Form der Selbstjustiz womöglich eines Tages im eigenen Umfeld rechtfertigt.

Die Definition von „Mord“ steht im Strafgesetzbuch StGB § 211, die von „Totschlag“ in den folgenden Paragraphen. Wer mehr wissen will, kann sich beispielsweise die Diskussion auf Wikipedia durchlesen. Ob aus Eifersucht, Wut oder Verzweiflung, ob aus politischen, religiösen oder persönlichen Motiven – was da geschieht, ist immer ein Mord oder Massenmord, und ich persönlich wünsche mir, dass es in den Medien auch so bezeichnet wird.

Nachahmungstäter

Sobald wir den Kategorien der Täter folgen und uns öffentlich mit ihren Motiven beschäftigen, überlassen wir ihnen die Deutungshoheit. Viele Täter sind Nachahmungstäter, denen man die ersehnte Aufmerksamkeit allenfalls in Strafrecht und Ursachenforschung zukommen lassen sollte, nicht über hysterische Medien (insbesondere Social Media Kanäle), die im Sekundentakt Halbwissen verbreiten.

Nach handfesten Forschungsergebnissen zu Nachahmungstätern bei Suizid hat sich die seriöse Presse präventiv „Suizidrichtlinien“ nach österreichischem Vorbild verordnet. Mit dieser Vorgabe sollten sich auch alle, die in den sozialen Medien aktiv sind, dringend auseinandersetzen. Es stellt sich zudem die Frage, ob man diese Grundsätze der Berichterstattung auf weltanschaulich motivierte Gewalttaten ausweiten sollte.

#plantroses

Eine persönliche Bitte an meine Leser und Leserinnen: Kauft heute kein Pfefferspray, sondern pflanzt einen Rosenstock, der euch und andere erfreut und dessen Blüten ihr irgendwann freigiebig verschenken könnt. Jeder Mensch wünscht sich Schönheit und Liebe und muss lernen, mit wehrhaften Dornen fertig zu werden, mit Zurückweisung und Schmerz, und dennoch weiterhin offen auf andere zuzugehen. #plantroses

Ein Artikel geboren aus der Hilflosigkeit der vergangenen Tage und Wochen. Ihr dürft ihn gern teilen. Und Rosen pflanzen. Für jeden, der gerade dringend ein Symbol der Verbundenheit und des Respekts braucht.

#plantroses

© Imke Brodersen, 2010

Der Autor

Ein Blog von Imke Brodersen über Bücher, Autoren und den Alltag einer Literaturübersetzerin. A German literary translator's blog on books, authors, and translating in general. By Imke Brodersen.

4 Kommentare

  1. Merz Norbert sagt

    soso, viel verändert hat sich dein Schreibstil nicht, aber dein Spektrum sich immens erweitert. Nun da ich dich wiederhabe Imkey werde ich dich beobachten….mit demselben freudig gespannten Interesse wie damals. Ach es ist so schön dass ich mich an dich erinnert habe…

    • Imke sagt

      Danke, Norbert, für den netten Kommentar. Beobachte ruhig weiter – dieses Jahr möchte ich wieder häufiger schreiben. Hoffentlich mit ein bisschen Spektrum, das dich anspricht. Auf die alten Zeiten!

      Grüße in die Nähe, Imke

  2. Hallo Imke, ich bin über die FRAUEN LESE CHALLENGE von Wortlichter auf dich aufmerksam geworden – auch wenn dieser Beitrag schon etwas älter ist, wollte ich dich doch wissen lassen, dass ich ihn interessiert gelesen habe, denn mit dieser genauen Differenzierung habe ich mich in diesem Bereich noch nicht beschäftigt. Und die Aufforderung, kein Pfefferspray zu kaufen, sondern einen Rosenstock zu pflanzen, finde ich ganz ganz wundervoll. Die Welt braucht mehr Menschen, die so denken. Liebe Grüße, Kea

  3. Imke sagt

    Hallo Kea, das ist ja nett! Sorry, für die späte Antwort, ich habe Spam-Filter eingebaut und gucke leider zu selten in die Kommentare. Die FRAUEN LESE CHALLENGE verfolge ich sehr aufmerksam, wenn auch eher inaktiv – tolles Projekt!

    Manchmal denke ich etwas schräg um die Ecke, aber es ärgert mich immer wieder, wenn in den Medien nicht von „Mord an Familienmitgliedern“ gesprochen wird, sondern beschönigend von „erweitertem Selbstmord“ oder „Familientragödie“.

    Bald ist wieder Zeit für einen Ausflug in den „Rosenneuheitengarten“ Beutig in Baden-Baden, wo ich schon viele wunderschöne Rosenbilder geknipst habe. Wenn die Seele von Duft und Schönheit erfüllt ist, fallen alle bösen Gedanken von uns ab. Hoffe ich…

    Viele Grüße, Imke

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