Literaturübersetzer sind begeisterte Jäger und Sammler wunderbarer Bücher. Und es gibt weitaus mehr verlockende Titel, als irgendein Mensch lesen kann. Auf der letzten Frankfurter Buchmesse verglichen wir in der Übersetzerrunde im Weltempfang spontan die Höhe der Stapel unserer ungelesener Bücher (SuB), die sehnsüchtig darauf harren, endlich ihrer Bestimmung nachzukommen.
Meinen Stapel fand ich damals vergleichsweise akzeptabel – deshalb durfte er nach der Buchmesse erneut um etliche Exemplare anwachsen. Aktuell misst er noch 58 Zentimeter, denn über Weihnachten ist er trotz hoch interessantem Nachschub um stolze 15 Zentimeter geschrumpft.
Frisch gelesen
Alle Bücher auf dem Stapel „frisch gelesen“ (rechts im Bild) sind lesenswert, und alle sind Übersetzungen, die nicht aus meinen Arbeitssprachen stammen: Zwei Erzählungen der Teheraner Schriftstellerin Fariba Vafi, Rafik Schamis „Sophia“ (eine prall verwobene Geschichte von Liebe, Selbstbestimmung und der Suche nach eigenen Lebenswegen, in der sich die Entwicklungen der syrischen Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten widerspiegeln), „Die Regenbogentruppe“ von Andrea Hirata (ein Bestseller aus Indonesien, Gastland der letzten Buchmesse, der unsere innerdeutschen Bildungsdebatten unvermittelt in ein ganz neues Licht rückt) und ganz obenauf „Ich heiße nicht Miriam“ von der schwedischen Autorin Majgull Axelsson. Dieses Buch hat mich am meisten berührt.
Lesetipp: „Ich heiße nicht Miriam“
Miriam lebt in Schweden, hat in ihrer Jugend zwei deutsche Konzentrationslager überlebt und bekommt zum 85. Geburtstag ein Armband mit ihrem Namen geschenkt. Da rutscht ihr spontan dieser Satz heraus: „Ich heiße nicht Miriam.“ Doch die alte Dame ist keineswegs auf dem Weg in die Demenz, sondern stellt sich an diesem Tag mit zunehmender Entschlossenheit ihrem lange gehüteten Geheimnis: Sie ist keine Jüdin, sondern eine Roma, die einst Malika hieß. Angesichts des weiter schwelenden Rassismus‘ in Europa auch nach Ende des Zweiten Weltkriegs hat sie die Lüge, die ihr den Neuanfang in Schweden ermöglichte, niemals aufgeklärt.
Nur einen Bruchteil ihrer Geschichte gibt Miriam gegenüber ihren Angehörigen preis.
Die 570 Seiten kann man unmöglich in einem Rutsch durchlesen. Immer wieder habe ich den Roman beiseitegelegt. Wie Miriam/Malika die fest verrammelten Türen ihrer Erinnerung aufstößt, ist schwer zu verdauen, ihre Schlussfolgerungen und Reaktionen ebenso. Nur einen Bruchteil ihrer Geschichte gibt sie während dieses Prozesses gegenüber ihren Angehörigen preis.
Die Aktualität ist gerade in diesem Winter, in dem in Deutschland über Flüchtlingskrise und Integration debattiert wird, erschütternd. Als Leser bekommt man einen Eindruck davon, wie kompliziert ein Neuanfang für traumatisierte, verfolgte Menschen ist. Wie leicht scheinbar harmlose Gesten unvermittelt einen Flashback auslösen können und auch, warum ein heimatloser Mensch womöglich dem Frieden nicht traut und mittels Lügen die eigene Herkunft verschleiert. (Lesenswert zum Thema ist auch der Artikel von Cordula von Denkowski, „Das Trauma nach der Flucht“, auf spektrum.de vom 6.10.2015.)
Die Aktualität ist gerade in diesem Winter, in dem in Deutschland über Flüchtlingskrise und Integration debattiert wird, erschütternd.
Danke, Christel Hildebrandt, für die Übersetzung. Da ich kein Schwedisch beherrsche, kann ich über richtig und falsch nicht urteilen. Ich war jedoch fasziniert von der der sprachlichen Gestaltung, die extrem unterschiedliche Situationen zum Leben erweckte und schier Unerträgliches lesbar machte. Das war bei diesem Thema sicher nicht einfach. Zugleich weckte nicht zuletzt die sprachliche Form meine Neugier auf weitere Bücher von Majgull Axelsson. Dieses spezielle Buch über weibliche Erfahrungen mit Rassismus und Entwurzelung werde ich sicher mehrfach verschenken.
Und mein SuB-Stapel?
Dem SuB-Stapel (links im Bild) habe ich nach dem ergiebigen weihnachtlichen Lesemarathon ein Verfallsdatum verpasst: Bis Oktober 2016 (nächste Frankfurter Buchmesse) sollte er sich mindestens halbiert haben. Aktuell umfasst er 13 Romane (weitgehend im unteren Teil, weil ich zum Messen mehrere Stapel aufeinander gepackt habe), ein zweisprachiges Bilderbuch (bisher nur halb gelesen, nämlich nur den deutschen Text) und zehn Sachbücher (immerhin schon teilweise angelesen). Klarer Entschluss: Keine Wochenendarbeit und pünktlich Feierabend machen!
Nächstes Jahr plädiere ich für eine Weihnachtsauszeit nach isländischer Tradition. Dort erscheinen neue Bücher angeblich bevorzugt in der Adventszeit. Weihnachten schenkt man sich gegenseitig Bücher und zieht sich anschließend zum Lesen gepflegt ins Bett zurück. Himmlisch!
Wie hoch ist dein SuB? Was für Schätze verstecken sich darin, und mit welchen Strategien pflegst du ihn? Ich freue mich über Feedback und neue Anregungen.