Lesetipp: Der Circle (Dave Eggers)

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Allgemein

Zu jeder längeren Reise gehört laut Familientradition bei mir zwingend ein für alle Mitreisenden interessantes Hörbuch. Unterhaltsam, gut gelesen und am besten so anregend, dass man gar nicht mehr aussteigen möchte. Wenn man dann doch einmal das Auto verlässt, wird gemeinsam spekuliert, wie es wohl weitergeht. Und unterwegs schaltet man hlchstens kurz aus, weil man die eigenen Gedankengänge mit den anderen diskutieren will. So verschwimmt der Urlaub mit der gehörten Geschichte.

„Der Circle“ von Dave Eggers, übersetzt von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann, erschienen 2014 bei Kiepenheuer und Witsch, erfüllt diese Kriterien definitiv. Es ist eine jener Science Fiction-Visionen, die ganz nah am Heute und damit tatsächlich vorstellbar wären.

Deine Geräte wissen, wer du bist.

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Der Siegeszug des Circle

Die junge Mae Holland ist ein Glückspilz: Protegiert von ihrer College-Freundin Annie ergattert sie einen Job beim renommierten kalifornischen Unternehmen „The Circle“, dem mit der Erfindung von TruYu ein Durchbruch gelungen ist: Statt unzähligen Einzelpräsenzen und Konten mit unterschiedlichen Benutzernamen und Passwörtern nur noch eine einzige Internetidentität pro Person.

„Ein einziger Button für den Rest deines Online-Lebens.“ (DER CIRCLE, Dave Eggers)

Suchanfragen und Mailversand, Abstimmen, Kommentieren und Diskutieren, Bilder speichern oder Webcams abrufen, Bestellen, Bezahlen, Gesundheitsdaten, häusliche Sicherheit und Bewegungsprofile – die zahllosen miteinander verknüpften Produkte des Circle sind derart ausgefeilt, dass die Menschen begeistert zugreifen.

Das Private wird öffentlich

Mae ist ehrgeizig genug, alle Chancen zu ergreifen, die der Circle ihr bietet, und fasziniert von den Möglichkeiten, welche die hierdurch geschaffene Transparenz der Gesellschaft eröffnet.

„In einer Welt, in der schlechte Entscheidungen keine Option mehr sind, haben wir keine andere Wahl, als gut zu sein.“ (DER CIRCLE, Dave Eggers)

In ihrem Bemühen darum, im unternehmensinternen Ranking aufzusteigen, an der Verbesserung der Welt mitzuarbeiten und zum perfekten Aushängeschild für den Circle zu werden, entfremdet sich Mae von weniger internetaffinen Freunden und Verwandten und selbst von skeptischen Circle-Mitarbeiten. Wer schon immer einmal wissen wollte, wie Gehirnwäsche, Sekteneinstieg und der Übergang zu einem totalitären Regime verlaufen, kann dies an Maes Werdegang miterleben.

Zukunftsvision?

Angesichts all dessen, was mittlerweile über den Umgang mit unseren Daten im Netz bekannt ist, scheint der Autor der Realität mit seiner Zukunftsvision nur noch knapp voraus zu sein.

„Wenn du nicht transparent bist, was hast du zu verbergen?“ (DER CIRCLE, Dave Eggers)

Die Diktatur von Big Data scheint in vielen Bereichern bereits Realität zu sein. Dank Google, Twitter, Facebook, Instagram, PayPal und vielen kleineren Informationsschnipseln machen wir unser Leben freiwillig gläsern. Wer als junger Mensch digital nicht auffindbar ist, obwohl er die Möglichkeiten dazu hätte, erscheint schon heute entweder als technikfeindlich oder tatsächlich als verdächtig.

Hörbuch oder Lesefassung?

Die gekürzte Hörbuchfassung – spannend gelesen von Torben Kessler – ist mit zehn Stunden Laufzeit perfekt für eine längere Fahrt, lässt aber leider viele Fragen offen. Als ich das gedruckte Buch durchblätterte, das ich verschenken wollte, bemerkte ich auf Anhieb Szenen, die ich nicht kannte, die für das Verständnis der Gesamthandlung jedoch von Bedeutung waren. Insbesondere erklärten sie bestimmte Reaktionen der Protagonistin, über die wir zuvor diskutiert hatten. Hörbuchfans sei also ans Herz gelegt, den Roman später noch einmal gemütlich auf dem Sofa richtig zu lesen.

Weiterlesen

Der Themenbereich Datenmissbrauch und totale Überwachung hat seit den Enthüllungen von Wikileaks und Eduard Snowden eine neue Dimension erreicht und zahlreiche Autoren inspiriert. Marc Elsberg (Blackout) hat zu dem Thema schon im Mai 2014 ebenfalls einen spannenden Thriller vorgelegt: ZERO. Sie wissen, was du tust. (Steht definitiv auf meiner Leseliste für diesen Winter, denn seit „Blackout“ bin ich Elsberg-Fan.)

Im Sachbuchbereich erlebte ich auf der Buchmesse ein Interview mit Yvonne Hofstetter, der Autorin von Sie wissen alles: Wie intelligente Maschinen in unser Leben eindringen und warum wir für unsere Freiheit kämpfen müssen“ (C. Bertelsmann, 2014), in dem sie warnte, der Mensch mit seinen Daten werde zum Kapital des 21. Jahrhunderts. Diesen Gedanken behandelt auch Hannes Grassegger in seinem Essay „Das Kapital bin ich. Schluss mit der digitalen Leibeigenschaft!“ (Kein & Aber, 2014). Der Link führt zu einer Rezension. Interessanterweise störte mich daran, dass der Autor sich nicht namentlich zu erkennen gibt – TruYu lässt grüßen!

Weitere aktuelle Bücher zum Thema wären „Silicon Valley: Was aus dem mächtigsten Tal der Welt auf uns zukommt“ von dem Journalisten und Wirtschaftswissenschaftler Christoph Keese (Knaus, 2014) oder „Wem gehört die Zukunft?“ von Jaron Lanier (Hoffmann und Campe, 2014).

„Du bist nicht der Kunde der Internetkonzerne. Du bist ihr Produkt.“ (WEM GEHÖRT DIE ZUKUNFT? Jaron Lanier)

Sind wir das bereits? Wollen wir  – nur weil die vorhandenen kostenlosen Social Media-Möglichkeiten so reizvoll sind – zum Produkt werden und nebenbei freiwillig die Oberhoheit über unsere Daten abgeben? Die von Generationen von Menschen erkämpfte Freiheit des Individuums aufs Spiel setzen? Bürgerrechte und Demokratieverständnis aufs Spiel setzen? Dave Eggers Roman wirft viele Fragen auf, und es lohnt sich, diese zu Ende zu denken.

Abgesehen von leider unverzichtbarer Spamabwehr wertet dieses Blog keinerlei personenbezogene Daten aus, weder für Werbung noch für sonstige Zwecke. Aller Skepsis zum Trotz freue ich mich dennoch über Kommentare von realen Personen, besonders wenn ihr eines der erwähnten Bücher (oder andere zum Thema) gelesen habt.. 

Der Autor

Ein Blog von Imke Brodersen über Bücher, Autoren und den Alltag einer Literaturübersetzerin. A German literary translator's blog on books, authors, and translating in general. By Imke Brodersen.

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